Verfassungsänderung durch das Verfassungsgericht - Dietrich Murswiek

Dietrich Murswiek

Direkt zum Seiteninhalt

Verfassungsänderung durch das Verfassungsgericht

Publikationen > Zeitungsartikel
 
 Der folgende Beitrag ist mit einer kleinen redaktionellen Änderung unter dem Titel
 
Karlsruhe als Klimaaktivist
 
am 19. Juli 2021 auf FAZ-Einspruch erschienen.
 
 
Dietrich Murswiek

Verfassungsänderung durch das Verfassungsgericht

Mit dem Klima-Beschluss vom 24. März 2021 macht das Bundesverfassungsgericht eine vom Bundestag abgelehnte Verfassungsänderung zum verbindlichen Verfassungsrecht. Es macht sich selbst nicht nur zum klimaaktivistischen Politikantreiber, sondern schwingt sich zum verfassungsändernden Gesetzgeber auf. Eine so krasse Kompetenzüberschreitung hat es in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts noch nie gegeben.

Der Klima-Beschluss hat so weitreichende Folgen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wie kaum ein anderes Gerichtsurteil zuvor. Das Bundesverfassungsgericht zwingt Regierung und Gesetzgeber, viel schneller als zuvor geplant „Klimaneutralität“ zu erreichen, also aus der Kohlenstoffwirtschaft auszusteigen. Das wird gigantische Anstrengungen und Kosten verursachen und nützt dem Klima nichts, weil die wichtigsten CO2-Emittenten der Welt nicht oder jedenfalls nicht in diesem Tempo mitziehen. Zu befürchten ist, dass ein Großteil der Emissionen – und damit auch die wirtschaftliche Wertschöpfung – ins Ausland verlagert werden. Hätten darüber Regierung und Parlament aus freien Stücken entschieden, dann könnten die Wähler mit ihrer Stimme Beifall oder Ablehnung signalisieren. Aber das Bundesverfassungsgericht lässt der Politik und damit auch den Wählern keine Wahl.

Wie kommt das Gericht dazu? Es behauptet, aus dem Staatsziel Umweltschutz des Grundgesetzes (Artikel 20a) ergebe sich, dass der Staat verpflichtet sei, das Temperaturziel des Pariser Klimaabkommens von 2015 anzustreben, nämlich den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Deshalb sei er verpflichtet sicherzustellen, dass in Deutschland nicht mehr CO2 emittiert wird, als dem aus dem Pariser Abkommen angeblich errechenbaren „Restbudget“ von 6,7 Gigatonnen entspricht. Das ist wenig. Nach den Berechnungen des Bundesverfassungsgerichts wird davon Ende 2030 trotz aller schon unternommenen Anstrengungen zur CO2-Einsparung nur noch ein Rest von ungefähr einer Gigatonne übrig sein, wenn so viel emittiert wird, wie nach dem bisher geltenden Klimaschutzgesetz maximal zulässig war. Nach 2030 wird es in Deutschland ökonomisch ganz düster, wenn nicht vorher noch eine radikale Wende gelingt. Deshalb hat jetzt der Bundestag schon schnell das Klimaschutzgesetz geändert und die zulässigen Emissionsmengen weiter verringert.

Die Frage, welches Temperaturziel anzustreben ist, ist aber im Ausgangspunkt eine politische Frage. Das Grundgesetz legt nicht fest, wie warm es in Deutschland werden darf, und schon gar nicht, wie sich – soweit von Menschen beeinflusst – die Weltdurchschnittstemperatur entwickeln darf. Aus Artikel 20a („Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen“) ergeben sich für die klimapolitische Zielsetzung allerdings Grenzen: Der Staat darf nicht hinnehmen, dass durch anthropogene Treibhausgasemissionen die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört oder schwerwiegend geschädigt werden. Von einer durch den Klimawandel bedingten Zerstörung der Lebensgrundlagen in Deutschland sind wir aber sehr weit entfernt, und im Hinblick auf Schädigungen von Umweltgütern haben Regierung und Gesetzgeber große Einschätzungs-, Bewertungs- und Prognosespielräume. Es ist daher nicht möglich, aus Artikel 20a ein konkretes Temperaturziel abzuleiten, jedenfalls keines, das die Erderwärmung auf weniger als 2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit begrenzt.

Das tut das Bundesverfassungsgericht zunächst auch nicht. Es betont vielmehr, dass es nicht Aufgabe der Gerichte sei, „aus der offenen Formulierung des Art. 20a konkret quantifizierbare Grenzen der Erderwärmung und damit korrespondierende Emissionsmengen oder Reduktionsvorgaben abzuleiten“.

Dann macht das Bundesverfassungsgericht aber einen merkwürdigen Sprung: Es weist darauf hin, dass der Gesetzgeber in Paragraph 1 des Klimaschutzgesetzes das Temperaturziel des Pariser Abkommens als Grundlage des Gesetzes bezeichnet habe. Das Gesetz wolle diese Temperaturschwelle damit als grundlegende Ausrichtung des Klimaschutzes verstanden wissen. Das Bundesverfassungsgericht erblickt hierin eine Konkretisierung des verfassungsrechtlich gebotenen Klimaschutzes.

Wäre unter „Konkretisierung“ der sich aus Artikel 20a ergebenden Klimaschutzanforderungen zu verstehen, dass der Gesetzgeber innerhalb seines Gestaltungsspielraums auf der Ebene des einfachen Gesetzes festlegt, welche konkreten Klimaschutzziele der Staat verfolgt und welche Mittel er dazu einsetzt, dann wäre dagegen nichts einzuwenden. Das Bundesverfassungsgericht versteht unter „Konkretisierung“ hier aber, dass das im Klimaschutzgesetz festgelegte Temperaturziel quasi verfassungsrechtlichen Rang erhält. Der Gesetzgeber könne, so das Bundesverfassungsgericht, das Ziel zwar abändern. Aber das müsse er ausdrücklich und in einem transparenten Verfahren tun. Solange er dies nicht tue, müsse er selbst sich an seiner Konkretisierung des Artikels 20a messen lassen, und das Bundesverfassungsgericht könne dies kontrollieren.

Nach dem Grundgesetz kontrolliert das Bundesverfassungsgericht Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit am Maßstab des Grundgesetzes. Beim Klimaschutz hingegen will das Bundesverfassungsgericht nun Gesetze am Maßstab des Klimaschutzgesetzes kontrollieren oder genauer: Es kontrolliert die übrigen Bestimmungen des Klimaschutzgesetzes am Maßstab des im Klimaschutzgesetz festgelegten Temperaturziels. Eine einzelne Bestimmung eines einfachen Gesetzes erhält auf diese Weise einen höheren Rang als die anderen Bestimmungen desselben Gesetzes, nämlich relativen Verfassungsrang.

Das Bundesverfassungsgericht vollzieht hier einen Dreisprung, der im Zickzack verläuft: Ausgehend von Artikel 20a, dessen Maßstab unbestimmt und offen ist, blickt das Bundesverfassungsgericht auf die Konkretisierung dieses Maßstabs durch das einfache Gesetz, liest dann den Maßstab des einfachen Gesetzes in Artikel 20a hinein, um dann daran wieder das einfache Gesetz zu kontrollieren.

Eine solche Konstruktion ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Das Bundesverfassungsgericht hat sie gewählt, um für seinen klimapolitischen Fall einen Entscheidungsmaßstab zu gewinnen, der sich aus dem Grundgesetz nicht ergibt. Damit hat sich das Bundesverfassungsgericht in die Rolle eines klimapolitischen Akteurs begeben. Wenn der Gesetzgeber wohlklingende Ziele verkündet und dann nicht genügend tut, sie zu verwirklichen, ist es normalerweise Sache der kritischen Öffentlichkeit und der Wähler, ihn beim Wort zu nehmen und ihn gegebenenfalls bei der nächsten Wahl abzustrafen. Das Bundesverfassungsgericht nimmt jetzt für sich in Anspruch, den Gesetzgeber zu verpflichten, die von ihm festgelegten Ziele auch konsequent zu verwirklichen.

Dabei hat das Klimaschutzgesetz lediglich das Ziel des Pariser Abkommens aufgenommen und damit bekundet, dass das Gesetz dazu diene, die Verpflichtungen aus diesem Abkommen zu erfüllen. Das Pariser Abkommen bestimmt aber kein CO2-Restbudget. Es normiert auch keine konkreten CO2-Minderungsverpflichtungen, sondern überlässt es den Staaten, ihre Minderungspflicht selbst festzulegen. Deutschland hat sich mit der EU verpflichtet, bis 2030 die CO2-Emissionen – bezogen auf 1990 – um 55 % zu reduzieren. Das ist so auch im Klimaschutzgesetz vorgesehen. Dieses verstößt nicht gegen das Pariser Abkommen. Deshalb ist es nicht einmal möglich, den Gesetzgeber im Sinne eines „Konsequenzgebots“ auf das Restbudget festzunageln.

Indem das Bundesverfassungsgericht das Temperaturziel des Gesetzes und des Pariser Abkommens von einem politisch anzustrebenden Ziel in eine Pflicht umdeutet, nicht mehr CO2-Emissionen zu erlauben als mit einem aus dem Ziel abgeleiteten nationalen Restbudget vereinbar ist, macht es den Kerngehalt einer 2018 von den GRÜNEN beantragten, vom Bundestag dann aber abgelehnten Verfassungsänderung für die Staatsorgane verbindlich. Die GRÜNEN wollten folgenden Satz in Artikel 20a einfügen: „Für die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verbindliche Ziele und Verpflichtungen des Klimaschutzes binden alle staatliche Gewalt unmittelbar.“ Das also steht nicht im Grundgesetz. Aber das Bundesverfassungsgericht entscheidet so, also ob es bezüglich des Pariser Temperaturziels dort stünde und als ob das Abkommen so auszulegen sei, wie die GRÜNEN es fälschlich angenommen haben. Es erhebt also eine vom Bundestag abgelehnte GRÜNEN-Forderung zum geltenden Verfassungsrecht, dem sich der Gesetzgeber nur dann wieder entziehen könnte, wenn er vom Temperaturziel ausdrücklich abrückte. Das aber darf er nach dem Pariser Abkommen nicht. So macht das Bundesverfassungsgericht nicht nur Klima-, sondern auch Verfassungspolitik.

Der Autor ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg.

Zurück zum Seiteninhalt